Nach
mehreren erfolglosen Versuchen früherer Regierungen bereits über drei
Legislaturperioden hinweg unternahm Anfang 1999 die neu gebildete
Regierungskoalition mit einem Eckpunktepapier einen weiteren Anlauf, das
Rehabilitations- und Schwerbehindertenrecht in ein Sozialgesetzbuch IX
einzuordnen. Eine „Koalitionsarbeitsgruppe Behindertenpolitik“ legte noch Ende
1999 erste Diskussionsentwürfe vor. Diese Entwürfe entsprachen in ihrer
grundlegenden Zielsetzung sowie in einer Reihe erkennbarer, konkreter
Regelungsvorhaben durchaus den Beschlüssen des Deutschen Ärztetages und wurden
insoweit von der Bundesärztekammer grundsätzlich begrüßt. Nach umfänglichen
politischen Abstimmungen einer Koalitionsarbeitsgruppe legte daraufhin das
Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Ende 2000 einen – allerdings nur
auf Fachebene erarbeiteten und von der Leitung des Ministeriums noch nicht
gebilligten – „Referentenentwurf eines Sozialgesetzbuches – Neuntes Buch – (SGB
IX) Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ vor. Auf der Grundlage
der programmatischen Positionen der Entschließung des 102. Deutschen Ärztetages
1999 in Cottbus sowie entsprechender Beratungen des Ausschusses
„Gesund-heitsförderung, Prävention und Rehabilitation“ begrüßte die
Bundesärztekammer in ihrer Stellungnahme zu der grundsätzlichen Ausrichtung des
Gesetzesvorhabens, „dass die Bundesregierung mit dem vorliegenden Entwurf der
schon in der Koalitionsvereinbarung niedergelegten Zielvorstellung nachkommt,
das Recht der Rehabilitation behinderter Menschen weiterzuentwickeln und in
einem Sozialgesetzbuch IX als weiteres Buch zusammenzufassen. Hiermit wird auch
die Entschließung des 102. Deutschen Ärztetages 1999 aufgegriffen, die
Selbstbestimmung und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Menschen
mit Behinderungen zu fördern, die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu
stärken sowie insbesondere das Recht der Rehabilitation zusammenzufassen, zu
harmonisieren und weiterzuentwickeln. Hiermit wird zudem der Forderung des
Ärztetages Rechnung getragen, mit einer einheitlichen Kodifizierung des
Rehabilitationsrechtes zur Sicherung und Weiterentwicklung der medizinischen
Rehabilitation beizutragen. Zu begrüßen ist daher auch, dass das überragende
Ziel jeglicher Rehabilitation, nämlich die Selbstbestimmung und
gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern und
Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken, als übergeordneter
Auftrag den einzelnen gesetzlichen Regelungen vorangestellt wird.“
Nach
Verabschiedung im Bundeskabinett Anfang Januar 2001 und den parlamentarischen
Beratungen des Bundestages und Bundesrates trat das zustimmungspflichtige
Gesetz in einer von Koalition und Opposition getragenen Fassung in seinen
Kernbereichen am 1. Juli 2001 in Kraft. Prioritäre Bedeutung für die politische
Bewertung dieses Gesetzes hat vor allem die Feststellung, dass es nach mehr als
zehn Jahren und zwei Anläufen in den beiden vorangegangenen Legislaturperioden
nunmehr überhaupt hat zustande kommen können. Seit 1974, dem Inkrafttreten des
Rehabilitations-Angleichungsgesetzes, welches durch das SGB IX abgelöst wird,
handelt es sich nach mehr als 25 Jahren um die erste wirkliche
Weiterentwicklung des Rehabilitations- und Behindertenrechts in Deutschland.
Von wesentlicher Bedeutung ist ebenso die durch dieses Sozialgesetzbuch
bewirkte Zusammenfassung des Rechts der Behinderten und der Rehabilitation
behinderter Menschen in einem weiteren Buch des Sozialgesetzbuches.
Hervorzuheben sind auch die durch das SGB IX erreichte Umsetzung des
Benachteiligungsverbotes des Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes sowie
die Orientierung des deutschen Behinderten- und Rehabilitationsrechts an der
Weiterentwicklung des Behindertenrechts im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation.
Hervorzuheben sind aus den
Neuregelungen des SGB IX insbesondere folgende Bereiche:
– Besondere Bedürfnisse um Probleme behinderter Frauen und
Kinder,
– Einführung eines
Verbandsklagerechtes,
– Einheitliches Behindertenrecht auf Bundesebene,
– Leistungsrechtliche Regelungen als unmittelbar geltendes
Recht für alle Rehabilitationsträger,
– Selbstbestimmung und Teilhabe; einheitlicher Begriff der
Behinderung,
– Integration behinderter Menschen als Ziel der Leistungen,
– Einbeziehung der Träger der Sozial- und Jugendhilfe in die
für alle Rehabilitationsträger geltenden Vorschriften,
– Leistungen zur sozialen Teilhabe/Änderung des
Sozialhilferechts,
– Koordination der Leistungen und Kooperation der
Leistungsträger in der Rehabilitation,
– Stärkung der Koordinationsfunktion der
Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (s. weiter oben),
– Rasche Zuständigkeitsklärung,
– Gemeinsame Servicestellen auf
Kreisebene.
Hinsichtlich
der praktischen Umsetzung des Sozialgesetzbuches IX (SGB IX) hob Ende 2002 das
nunmehr zuständige Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung
hervor, dass es den Prozess der Implementierung der Regelungen des SGB IX mit
allen Mitteln aktiv unterstützen wird. Dies soll gemeinsam mit allen
Beteiligten geschehen, insbesondere mit den Rehabilitationsträgern und den
Organisationen und Verbänden behinderter Menschen. Die Verwirklichung dieser
Ziele und Ansätze ist – so das Ministerium – aber nur dann möglich, wenn die
Rehabilitationsträger den mit diesem Sozialgesetzbuch verbundenen
Paradigmenwechsel auch tatsächlich vollziehen. Es gilt deshalb, ein neues
Verständnis der Rolle der Betroffenen im Rehabilitationsgeschehen zu
entwickeln. Nicht vorgefertigte Maßnahmen müssen angeboten werden, vielmehr
müssen die individuell erforderlichen Leistungen von den Rehabilitationsträgern
gemeinsam mit den betroffenen Menschen partnerschaftlich gestaltet werden.
Hierfür ist zwar jeder Rehabilitationsträger selbst verantwortlich, gleichwohl
gilt es das Denken in eigenen Zuständigkeiten und nur für den Kreis der eigenen
Leistungsberechtigten zu überwinden. Verbesserte Koordination der Leistungen
und verbesserte Kooperation der Leistungsträger sind daher die entscheidenden
Schwerpunkte, um die mit dem gegliederten System verbundenen Schnittstellen zu
überwinden. Die Bundesregierung hat sich verpflichtet, über die Wirkungen der
getroffenen Regelungen bis Ende 2004 zu berichten und weitere Regelungen
vorzuschlagen, wenn diese erforderlich sein sollten, um die Ziele des SGB IX zu
erreichen. Das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung hat
angekündigt, bei feststellbaren Umsetzungsdefiziten die notwendigen Regelungen
vorzuschlagen oder von der Möglichkeit der Regelung durch Rechtsverordnung
Gebrauch zu machen.
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