Tätigkeitsbericht 2022

25 Sogenannte Triage Ein schwer zu erfüllender Regelungsauftrag In einem Beschluss vom 16. Dezember 2021 hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber verpflichtet, unverzüglich wirksame Vorkehrungen zu treffen, damit niemand bei einer Entscheidung über die Verteilung von pandemiebedingt knappen intensivmedizinischen Behandlungsressourcen, also in einem Fall einer sogenannten Triage, aufgrund einer Behinderung benachteiligt wird. Die Bundesärztekammer hatte Ärztinnen und Ärzten bereits im Mai 2020 eine rechtliche und ethische Orientierungshilfe (1) gegeben, wenn sie im Fall knapper Behandlungskapazitäten schwierige Entscheidungen über die Vergabe medizinischer Ressourcen treffen müssen. Dies erkannte das Gericht ebenso wie die Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin an (2), hielt es jedoch für nicht ausreichend, weil sich in der komplexen Entscheidung über eine intensivmedizinische Therapie subjektive Momente ergeben können, die Diskriminierungsrisiken beinhalten. Der Gesetzgeber hat im Dezember 2022 eine Regelung in das Infektionsschutzgesetz aufgenommen und stellt darin als materielles Zuteilungskriterium auf die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patientinnen und Patienten ab. Zudem wird klargestellt, dass Komorbiditäten nur berücksichtigt werden dürfen, soweit sie aufgrund ihrer Schwere oder Kombination die auf die aktuelle Krankheit bezogene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern. Die Bundesärztekammer unterstützt dies im Grundsatz (3), hält es aber wie andere Verbände und Fachgesellschaften für nicht sachgerecht, dass bereits zugeteilte intensivmedizinische Behandlungskapazitäten von der Zuteilungsentscheidung gänzlich ausgenommen sind. Vertreter der Menschen mit Behinderungen begrüßen dies hingegen und plädieren zudem für eine Randomisierung der Zuteilungsentscheidung und damit den Ausschluss medizinischer Kriterien. Das Gesetz legt darüber hinaus strukturelle Vorgaben für Krankenhäuser mit Intensivstationen wie ein Zweit- bzw. Drittmeinungsverfahren, die Hinzuziehung von Fachexpertise hinsichtlich der besonderen Belange von Menschen mit Behinderungen und spezielle Dokumentationspflichten fest und enthält eine Evaluationsklausel. Diese soll spätestens im Jahr 2026 interdisziplinär auf Grundlage rechtlicher, medizinischer und ethischer Erkenntnisse durch unabhängige Sachverständige durchgeführt werden. Aus Sicht der Bundesärztekammer bietet die Evaluation die Chance, die gesetzgeberische Entscheidung mit der gebotenen zeitlichen Distanz zur Corona-Pandemie zu überdenken. ■ © picture alliance/dpa/Jens Büttner (1) www.baek.de/tb22/allokation (2) https://kurzelinks.de/76ze (Stand der DIVI-Empfehlung: 14. 12. 2021) (3) www.baek.de/tb22/triage

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