Ärzteparlament fordert Nachbesserung beim Pandemiemanagement
Berlin - Der 124. Deutsche Ärztetag hat konkrete Konsequenzen aus dem Umgang mit der Corona-Pandemie in den letzten 15 Monaten gefordert. Das Pandemiemanagement und die Krisenreaktionsfähigkeit in Deutschland müssten dringend optimiert werden, konstatierten die Abgeordneten des Ärztetages in einem mit großer Mehrheit gefassten Beschluss zur gesundheits- und sozialpolitischen Generalaussprache.
Unter anderem sollten im Infektionsschutzgesetz feste Krisenstäbe der Bundesländer unter Einbezug der Landesärztekammern angelegt und die Pandemiepläne von Bund, Ländern, Kommunen und Gesundheitseinrichtungen ständig auf dem aktuellen Stand gehalten werden. Außerdem sollten Reserven für wichtige Medizinprodukte, Arzneimittel und Impfstoffe angelegt sowie die innereuropäischen Produktionsstandorte für Medizinprodukte und wichtige Arzneimittel ausgebaut werden, forderten die Abgeordneten nach einer gut dreistündigen Debatte über die Auswirkungen der Corona-Pandemie in Deutschland.
Der Deutsche Ärztetag, der in diesem Jahr coronabedingt als reine Online-Veranstaltung ausgetragen wird, ist das erste große Zusammentreffen der verfassten Ärzteschaft nach der Ausrufung des Pandemiefalls im März letzten Jahres durch die WHO.
Neben dem konkreten Pandemiemanagement hat sich der Ärztetag in seinem Grundsatzbeschluss mit dem strukturellen Reformbedarf im Gesundheitswesen befasst. Dazu zählen die Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, die Neuregelung der Krankenhausplanung und -finanzierung, die Sicherung ambulanter Versorgungsstrukturen, der Ausbau der Digitalisierung sowie weitere Anstrengungen zur Fachkräftegewinnung im Gesundheitswesen.
Darüber hinaus sprach sich das Ärzteparlament für die Stärkung der interprofessionellen Zusammenarbeit der Beschäftigten im Gesundheitswesen unter Berücksichtigung der spezifischen ärztlichen Fachkenntnisse und Erfahrungen aus. Vernetzung und Kooperationen innerhalb und zwischen den jeweiligen Versorgungsbereichen sollten nach dem Willen des Ärzteparlaments stärker gefördert werden.
Der Beschluss im Wortlaut:
Für ein zukunfts- und krisenfestes Gesundheitswesen
Das deutsche Gesundheitswesen ist durch die Coronapandemie vor die größte Herausforderung der letzten Jahrzehnte gestellt worden. Die leistungsstarken ambulanten und stationären Strukturen des Gesundheitswesens sowie der beispiellose Einsatz von Ärztinnen und Ärzten aus allen Versorgungsbereichen haben eine Überlastung des Gesundheitswesens verhindert.
Die vergangenen Monate haben aber auch Defizite offengelegt, unter anderem bei der personellen und technischen Ausstattung in den Einrichtungen des Gesundheitswesens, insbesondere in den Gesundheitsämtern, bei der Vernetzung der Meldestrukturen und beim digitalen Ausbau. Bund und Länder sind aufgefordert, diese Schwachstellen gemeinsam mit der ärztlichen Selbstverwaltung zu analysieren und das Gesundheitswesen in Deutschland zukunfts- und krisenfest aufzustellen.
Öffentlichen Gesundheitsdienst stärken
Die Amtsärztinnen und Amtsärzte sowie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben im Verlauf der Coronapandemie Herausragendes geleistet. In ihren Aufgabenbereich fallen unter anderem die Kontaktpersonennachverfolgung, das Quarantänemanagement von Infizierten und Verdachtsfällen, Testungen auf SARS-CoV-2, Prüfung und Kontrolle von Hygienekonzepten sowie die Organisation des Meldewesens. Es ist dem großen persönlichen Engagement der Beschäftigten im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) zu verdanken, dass die Gesundheitsämter trotz unzureichender personeller und technischer Ausstattung diesen Aufgaben weitgehend nachgekommen sind.
Um die bestehenden Defizite im ÖGD zu beheben, ist die schnelle und umfassende Umsetzung des von Bund und Ländern geschlossenen Paktes für den Öffentlichen Gesundheitsdienst unerlässlich. Erforderlich ist darüber hinaus eine grundsätzliche Strukturreform des ÖGD. Sie muss unter anderem eine zentrale Stelle zur Koordination der Aktivitäten der einzelnen Gesundheitsämter und zur Entwicklung von technischen sowie inhaltlich-fachlichen Standards beinhalten. Flächendeckend sind alle Gesundheitsämter mit digitalen Kontaktnachverfolgungssystemen sowie einheitlichen Schnittstellen für eine Anbindung an das Robert Koch-Institut (RKI) auszustatten. Die ärztliche Leitung aller Gesundheitsämter in Deutschland ist zu gewährleisten. Zur personellen Aufstockung müssen Anreize für Ärztinnen und Ärzte geschaffen werden, im Öffentlichen Gesundheitsdienst tätig zu werden. Dafür ist eine tariflich gesicherte, arztspezifische Vergütung der Amtsärztinnen und Amtsärzte unabdingbar. Zur ärztlichen Nachwuchsförderung müssen die angedachten Maßnahmen der Novelle der Ärztlichen Approbationsordnung (ÄApprO) zur Stärkung des ÖGD bereits in der ärztlichen Ausbildung zeitnah und uneingeschränkt umgesetzt werden.
Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung zum Facharzt/Fachärztin für Öffentliches Gesundheitswesen sollten durch Einrichtung regionaler Weiterbildungsverbünde stärker unterstützt werden. Die Aufnahme des Öffentlichen Gesundheitswesens als Gebiet der "unmittelbaren Patientenversorgung" in die (Muster-)Weiterbildungsordnung 2018 bietet hierbei zusätzliche Kooperationsmöglichkeiten.
Patientengerechte Krankenhausplanung, -finanzierung und -vergütung sichern
Die Erfahrungen aus der Pandemie zeigen, dass Personalressourcen und Reservekapazitäten in der Krankenhausplanung sachgerechter definiert und finanziert werden müssen, als dies heute der Fall ist. Insbesondere sind der demografie- und morbiditätsbedingte Versorgungsbedarf sowie die dafür erforderlichen Personalressourcen prospektiv zu ermitteln und in der Krankenhausplanung zu berücksichtigen. Grundlegend ist ebenfalls eine stärkere Orientierung der Krankenhausplanung an der ärztlichen Weiterbildungsordnung, die den Stand des medizinischen Fortschritts und die Versorgungserfordernisse widerspiegelt. Eine moderne Krankenhausplanung muss zudem mehr kooperative Versorgungskonzepte, die Möglichkeiten der belegärztlichen Versorgung sowie sogenannte Mitversorgereffekte berücksichtigen.
Eine moderne Krankenhausplanung muss außerdem durch eine Neustrukturierung der Krankenhausinvestitionsfinanzierung und der Krankenhausvergütung flankiert werden. Bei der Krankenhausinvestitionsfinanzierung ist neben einem stärkeren Engagement der Bundesländer zur Auflösung des Investitionsstaus von derzeit mindestens sieben Milliarden Euro pro Jahr eine dauerhafte additive Kofinanzierung durch den Bund notwendig, allerdings unter Wahrung der grundgesetzlich verbrieften Krankenhausplanungshoheit der Länder.
Um dem zukünftigen Versorgungsbedarf gerecht zu werden und die Fehlanreize des G-DRG-Fallpauschalensystems zu beheben, ist eine grundlegende Reform der bisherigen erlösorientierten Krankenhausbetriebsmittelfinanzierung erforderlich. Diese muss sich gemäß dem krankenhausindividuellen Auftrag prioritär an den Kriterien tatsächlicher Personalbedarf, Personalentwicklung, Flächendeckung und Vorhalteleistungen ausrichten. Ein neues Krankenhausvergütungssystem muss - auch als Lehre aus der Coronapandemie - die Unterschiede der Kostenstrukturen der Krankenhäuser stärker abbilden und eine Kombination aus erlösunabhängigen pauschalierten Vergütungskomponenten zur Deckung von fallzahlunabhängigen Vorhaltekosten sowie einem fallzahlabhängigen Vergütungsanteil bilden. Die überfällige Reform des G-DRG-Systems sollte direkt nach der Bundestagswahl unter Einbindung der Expertise der maßgeblichen ärztlichen Verbände und Institutionen eingeleitet werden. Der 124. Deutsche Ärztetag 2021 schlägt hierzu die Einrichtung eines nationalen Krankenhausgipfels mit Vertretern der verfassten Ärzteschaft vor.
Zusätzlich sind kurzfristig gezielte und sachgerechte Lösungen zur ausreichenden Finanzierung stationärer Leistungen in der Coronapandemie erforderlich. Um Liquiditätsengpässe der Krankenhäuser zu vermeiden, muss gesetzlich sichergestellt werden, dass der Ganzjahreserlösausgleich für die Jahre 2021 und 2022 mindestens das Volumen des Jahres 2019 umfasst.
Arztpraxen bei Krisenbewältigung unterstützen
Die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte und insbesondere auch die Medizinischen Fachangestellten tragen maßgeblich dazu bei, die Coronapandemie zu bewältigen und das Gesundheitssystem als Ganzes vor Überlastung zu schützen. Mehr als 90 Prozent der Patientinnen und Patienten mit Covid-19 werden von den niedergelassenen Haus- und Fachärzten betreut. Zudem übernehmen die Arztpraxen in Deutschland nach der Coronavirus-Testverordnung (TestV) eine Schlüsselfunktion bei der symptomatischen und asymptomatischen Testung auf das Virus. Im Sinne einer qualitativ hochwertigen Patientenversorgung, nicht nur in Krisenzeiten, sondern auch darüber hinaus, fordert der 124. Deutsche Ärztetag 2021 Bund und Länder dazu auf, diese leistungsstarken ambulanten Strukturen zu sichern und zukunftsfähig zu machen.
Die Coronapandemie hat die Abläufe in Haus- und Facharztpraxen oft einschneidend verändert. Der in der Coronapandemie eingeführte Schutzschirm für die Vertragsärztinnen und Vertragsärzte mit finanziellen Ausgleichszahlungen durch die Krankenkassen muss als Schutzinstrument für den Bedarfsfall dauerhaft im SGB V verankert werden. Um die Arztpraxen bei dem (auch für die Pandemiebewältigung notwendigen) Ausbau der Digitalisierung einschließlich der IT-Sicherheit zu unterstützen, sind analog dem Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) finanzielle Ausgleichsmechanismen für die weitere Digitalisierung des ambulanten Versorgungsbereichs zu schaffen. Zur Würdigung des herausragenden Einsatzes der Medizinischen Fachangestellten in der Pandemiebewältigung unterstützt der 124. Deutsche Ärztetag mit Nachdruck die Forderung des Verbandes medizinischer Fachberufe e. V., die Leistungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Praxen nach dem Vorbild der Pflege mit einem steuerfinanzierten Bonus zu würdigen.
Ärztlichen Nachwuchs fördern, attraktive Studienbedingungen schaffen
Die Coronapandemie zeigt deutlich auf, wie wichtig ein funktionierendes Gesundheitswesen für das gesamte gesellschaftliche Wohlergehen ist. Vor diesem Hintergrund sieht der 124. Deutsche Ärztetag 2021 den wachsenden Fachkräftemangel im deutschen Gesundheitswesen mit Sorge. So fiel der Zuwachs der berufstätigen Ärztinnen und Ärzte im Statistikjahr 2020 mit einem Plus von 1,7 Prozent deutlich geringer aus als in den Vorjahren. Bei den jungen Ärztinnen und Ärzten aus dem Inland, die sich erstmalig bei einer (Landes-)Ärztekammer anmeldeten, verzeichnet die Statistik sogar einen Rückgang um 1,1 Prozent. Dem gegenüber steigt der Anteil der berufstätigen Ärztinnen und Ärzte, die das 60. Lebensjahr bereits vollendet haben, kontinuierlich an. Jeder fünfte berufstätige Arzt wird bald aus dem Berufsleben ausscheiden. Diese Abgänge können mit dem gebremsten Zuwachs junger Ärztinnen und Ärzte nicht mehr kompensiert werden, zumal mit zunehmender Teilzeitquote unter Ärztinnen und Ärzten die zur Verfügung stehende Arztzeit sinkt.
In einer der ältesten Gesellschaften der Welt mit steigendem medizinischen Versorgungsbedarf ist deshalb die ärztliche Nachwuchsförderung mit guten Ausbildungsbedingungen unerlässlich.
Die Bundesländer sind gefordert, ausreichende Studienplatzkapazitäten im Fach Humanmedizin zu schaffen und diese auch nachhaltig zu finanzieren. Daneben ist eine moderne und qualitativ hochwertige Ausbildung Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche ärztliche Nachwuchsförderung. Der 124. Deutsche Ärztetag unterstützt die Zielsetzung der Bundesregierung, das Medizinstudium mit einer Reform der Ärztlichen Approbationsordnung an die sich ständig verändernden Versorgungsstrukturen, die demografische Entwicklung und die Dynamik der digitalen Möglichkeiten anzupassen. Der 124. Deutsche Ärztetag warnt aber vor einer kontraproduktiven Ausbildungsverdichtung im Medizinstudium. Die Ausbildung darf inhaltlich nicht überfrachtet werden, gegebenenfalls müssen Inhalte herausgenommen oder gekürzt werden. Im Zuge der Reform des Medizinstudiums und einer attraktiveren Ausgestaltung der Ausbildungsbedingungen ist außerdem die Verankerung einer Aufwandsentschädigung für die von den Studierenden geleistete Arbeit im Praktischen Jahr dringend erforderlich.
Um junge Ärztinnen und Ärzte nach absolvierter Facharztweiterbildung in der kurativen Medizin zu halten, sind attraktive berufliche Rahmenbedingungen in Kliniken und Praxen unerlässlich. Für den stationären Bereich fordert der 124. Deutsche Ärztetag deshalb eine patienten- und aufgabengerechte Personalausstattung sowie die Refinanzierung von Tariflohnsteigerungen nicht nur für die Pflege, sondern auch für den ärztlichen Dienst.
Um Ärzten den Schritt in die Niederlassung zu erleichtern bzw. Praxen in die Lage zu versetzen, junge Ärztinnen und Ärzte in Anstellung zu beschäftigen, sind stabile Rahmenbedingungen und deren nachhaltige Finanzierung notwendig. In einem ersten Schritt ist deshalb die extrabudgetäre Vergütung ärztlicher Grundleistungen im ambulanten Bereich zu realisieren. Ziel ist ein entbudgetiertes System mit festen sowie kostendeckenden Preisen für ärztliche Leistungen.
Interprofessionelle Zusammenarbeit stärken
Eine qualitativ hochwertige Patientenversorgung erfordert ein differenziertes und abgestimmtes Zusammenwirken aller Berufsgruppen im Gesundheitswesen. Die Ärzteschaft war und ist offen für eine an den aktuellen wie zukünftigen Versorgungserfordernissen orientierte Entwicklung neuer Berufsbilder beziehungsweise eine Anpassung bestehender Gesundheitsfachberufe an die sich ändernden Anforderungen.
Ärztinnen und Ärzte wünschen verstärkt kooperative Formen der Zusammenarbeit mit anderen im Gesundheitswesen tätigen Berufsgruppen sowie das Arbeiten im Team. Innerhalb dieser Teams müssen Qualifikationen, Aufgaben- und Verantwortungsbereiche unter Berücksichtigung ärztlicher Kernkompetenzen und Vorbehaltsaufgaben klar zugewiesen und definiert sein. Unter diesen Voraussetzungen können und sollten Konzepte für einen interdisziplinären, multiprofessionellen und ganzheitlichen Behandlungs- und Betreuungsansatz entwickelt werden. Ein wesentlicher Garant für die Arbeit im Team und eine gute Patientenversorgung ist dabei die Kommunikation zwischen den Mitgliedern der beteiligten Gesundheitsberufe. Kommunikation mit Patientinnen und Patienten sowie anderen Berufsgruppen allerdings erfordert Zeit - und diese Zeit muss auch zur Verfügung stehen. Die Ärzteschaft erwartet, dass die dafür notwendigen Voraussetzungen in allen Vergütungssystemen und für alle beteiligten Berufsgruppen geschaffen werden. Ferner ist eine konsequente Nachwuchsgewinnung bei Gesundheitsfachberufen, insbesondere bei Medizinischen Fachangestellten und im Bereich der Pflege, unerlässlich.
Menschen statt Margen in der Medizin
In der Coronapandemie hat es sich als großer Vorteil erwiesen, dass Deutschland in den vergangenen Jahren - vielen anderslautenden Forderungen zum Trotz - an einer flächendeckenden Krankenhausversorgung und einer starken ambulanten hausärztlichen und fachärztlichen Versorgung festgehalten hat. Eine der wichtigsten Lehren aus der Pandemie muss es deshalb sein, diese leistungsstarken Strukturen zu erhalten und auszubauen, statt sie auszudünnen und auf reine Kosteneffizienz zu trimmen, wie es in der Vergangenheit von verschiedenen Seiten gefordert und auch betrieben worden ist.
Trotz schwieriger Rahmenbedingungen ist die Richtschnur ärztlichen Handelns immer die ärztliche Ethik auf der Grundlage des Genfer Gelöbnisses. Wenn aber Ärztinnen und Ärzte von Klinik- und Kostenträgern sowie zunehmend auch von kapitalgetriebenen Fremdinvestoren im ambulanten Bereich angehalten werden, in rein betriebswirtschaftlichen Dimensionen zu denken und nach kommerziellen Vorgaben zu handeln, geraten sie in einen für sie schwer lösbaren Zielkonflikt.
Der 124. Deutsche Ärztetag 2021 fordert deshalb von der Politik ein klares Bekenntnis gegen zunehmende Kommerzialisierung im Gesundheitswesen. Diesem Bekenntnis müssen konkrete gesetzgeberische Maßnahmen folgen. Krankenhäuser sind Einrichtungen der Daseinsvorsorge und keine Industriebetriebe, die sich ausschließlich an Rentabilitätszahlen ausrichten. Dies muss sich in einer an den tatsächlichen Bedürfnissen der Patienten orientierten Krankenhausvergütung und Planung widerspiegeln. Im ambulanten Bereich häufen sich Übernahmen von Arztpraxen und anderen Gesundheitseinrichtungen durch Fremdinvestoren, z. B. durch sogenannte Private-Equity-Gesellschaften. Aufgrund der vorwiegend renditeorientierten Motivation dieser Fremdinvestoren besteht die Gefahr, dass medizinische Entscheidungen zugunsten einer kommerziell motivierten Leistungserbringung beeinflusst werden. Zu befürchten ist ferner eine Konzentration von investorenbetriebenen medizinischen Einrichtungen vor allem in Ballungsräumen. Der 124. Deutsche Ärztetag fordert deshalb eine Begrenzung der Beteiligungsmöglichkeiten von Finanzinvestoren in der ambulanten Versorgung. Insbesondere sind die Größe und der Versorgungsumfang von medizinischen Versorgungszentren (MVZ) zu begrenzen. MVZ-Gründungen durch Krankenhäuser sind an einen fachlichen und räumlichen Bezug zum Versorgungsauftrag zu koppeln. Anträge auf Zulassung sowie auf Anstellung eines Arztes sind dann abzulehnen, wenn das MVZ eine marktbeherrschende Stellung erlangt. Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge mit externen Kapitalgebern sind zu unterbinden. Darüber hinaus sollten in einem Register alle MVZ aufgeführt werden, damit mehr Transparenz für Patientinnen und Patienten sowie Ärztinnen und Ärzte über die im Bereich des im SGB V agierenden Finanzinvestoren geschaffen wird.
Krise als Treiber für Digitalisierung nutzen
Ein Effekt der Pandemie betrifft die Auswirkungen auf die Fortentwicklung der Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen. Während auf der einen Seite die Akzeptanz vieler digitaler Anwendungen, wie z. B. Videosprechstunden oder Telekonsile, deutlich gestiegen ist und es hier eine erfreuliche Dynamik gibt, legt die Pandemie auch die Defizite und Mängel der vergangenen Bemühungen um eine Digitalisierung im Gesundheitswesen offen.
Die Krise zeigt, wie weit einzelne Bereiche des Gesundheitswesens von einem sinnvollen, bedarfsgerechten und standardisierten Informationsfluss in den medizinischen Versorgungsprozessen entfernt sind. Die Ärzteschaft hat früh auf diese Defizite hingewiesen und sich konzeptionell für den weiteren Ausbau der digitalen Infrastruktur sowie digitaler Anwendungen in der Patientenversorgung eingesetzt. Bereits erprobte Anwendungen der Telematikinfrastruktur, wie der Notfalldatensatz und der Medikationsplan, sollten zügig in den Versorgungsalltag eingeführt werden, um den konkreten Nutzen der Telematik erfahrbar zu machen. Mit Sorge sieht der 124. Deutsche Ärztetag 2021 allerdings eine überhastete und vor allem politisch motivierte, viel zu enge Taktung weiterer Digitalisierungsschritte. Eine digitale Medizin wird nur dann auf Akzeptanz stoßen, wenn sie ihren Nutzen belegen kann, sie erprobt und praxistauglich ist und kein Qualitätsrisiko birgt. Digitalisierung muss auch einen Beitrag zur Entlastung von Ärztinnen und Ärzten von bürokratischen Tätigkeiten (z. B. Vermeidung von Mehrfacherhebung von Daten) leisten, damit die eingesparte Zeit direkt der Patientenversorgung zugutekommen kann. Um das zu gewährleisten, ist es zwingend erforderlich, neue digitale Anwendungen mit der dafür notwendigen Zeit und Genauigkeit auf ihre Praxistauglichkeit hin zu erproben. Die Ärzteschaft in Deutschland ist bereit, sich dabei weiterhin aktiv einzubringen.
Duales Krankenversicherungssystem fortentwickeln
Das Gesundheitswesen hat in der Coronapandemie einmal mehr unter Beweis gestellt, dass es trotz regulatorischer Defizite allen Patientinnen und Patienten unabhängig von ihrem sozialen Status ein hohes Versorgungsniveau bietet und hochwertige Gesundheitsleistungen flächendeckend und wohnortnah erbringt. Abgesichert wird diese hohe Leistungsfähigkeit durch das duale Versicherungssystem mit den beiden Säulen gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und private Krankenversicherung (PKV). Der 124. Deutsche Ärztetag 2021 begrüßt deshalb ausdrücklich das klare Bekenntnis der von der Bundesregierung eingesetzten Wissenschaftlichen Kommission für ein modernes Vergütungssystem (KOMV) zu dem Erhalt der Vergütungssystematiken in der vertragsärztlichen Versorgung und der privatärztlichen Versorgung und damit zu dem Erhalt des dualen Krankenversicherungssystems in Deutschland. Die Preisgabe dieser bewährten Strukturen zugunsten einer von Teilen der Politik geforderten Vereinheitlichung der Versicherungssysteme löst keine Probleme, sondern schafft nur neue. Mit der Einführung der Bürgerversicherung drohen Rationierung, Wartezeiten und Begrenzungen des Leistungskataloges.
Statt das duale Krankenversicherungssystem abzuwickeln, ist eine kontinuierliche Fortentwicklung und Anpassung an die Herausforderungen der Zukunft erforderlich. Diesem Ziel dient auch eine neue, rechtssichere und an die moderne wissenschaftliche Entwicklung angepasste Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ). Der 124. Deutsche Ärztetag fordert, dass die Modernisierung der GOÄ auf Grundlage der dafür geleisteten Vorarbeiten von Bundesärztekammer, PKV-Verband und Beihilfe in der nächsten Legislaturperiode prioritär umgesetzt wird.
Sektorendenken und Sektorengrenzen überwinden
Die enge Zusammenarbeit von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, Kliniken, Rehazentren und anderen Gesundheitseinrichtungen in der Corona-Pandemie trägt maßgeblich zu gut abgestimmten medizinisch-pflegerischen Behandlungsabläufen bei und beugt einer Überlastung einzelner Versorgungsbereiche vor. Häufig gehen Kooperationsprojekte und Vernetzungen zwischen Einrichtungen innerhalb und zwischen den Sektoren auf das persönliche Engagement und die Eigeninitiative der in den Einrichtungen Tätigen zurück.
Strukturell erschweren jedoch nach wie vor die sektorale Gestaltung und die zunehmende Komplexität unseres Gesundheitswesens die Koordination und Kooperation zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, Rehabilitation und Pflege. Gerade Patientinnen und Patienten mit komplexen Versorgungsbedarfen fühlen sich häufig überfordert.
Ein Gesundheitswesen, das die Bedarfe der Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt stellt, erfordert Konzepte für eine moderne sektorenverbindende Versorgungsplanung unter Berücksichtigung regionaler Strukturen sowie eine personelle und digitale Verknüpfung der Sektoren und neue interprofessionelle und intersektorale Kooperationsmodelle.
Angesichts der Herausforderungen unseres Gesundheitssystems, wie dem wachsenden Behandlungsbedarf in einer älter werdenden Gesellschaft mit einer zunehmenden Zahl multimorbider Patientinnen und Patienten, haben sich aus der Versorgung heraus, angepasst an die regionalen Erfordernisse vor Ort, bereits wegweisende Versorgungsmodelle entwickelt. Das Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) ermöglicht schon heute unterschiedliche Formen der Berufsausübung und Zusammenarbeit. Hierzu gehört neben der integrierten Versorgung nach den §§ 140a-d SGB V insbesondere die hausarztzentrierte Versorgung gemäß § 73b SGB V, die die Koordinations- und Integrationsfunktion der Hausärztinnen und Hausärzte in enger Zusammenarbeit mit anderen Fachärztinnen und Fachärzten fördert. Darüber hinaus gibt es in Deutschland bereits über 100 Praxisnetze, in denen eine intensive fachliche Zusammenarbeit zwischen Haus- und Fachärztinnen und -ärzten sowie dem stationären Sektor erfolgt. In ländlichen und strukturschwachen Regionen wurden regionale Gesundheitszentren und überörtliche Berufsausübungsgemeinschaften gegründet, in denen die sektorenübergreifende und interprofessionelle Versorgung für eine definierte Region gebündelt wird. Gleichzeitig gilt es, das bewährte und rechtssichere Belegarztsystem zu fördern und weiterzuentwickeln. Alle Modelle gilt es, unter ärztlicher Leitung auszubauen, weiterzuentwickeln und nachhaltig zu finanzieren.
Sowohl die von der Regierung eingesetzte Bund-Länder-AG "Sektorenübergreifende Versorgung" als auch die angekündigte Reform der Notfallversorgung wurden in der laufenden Wahlperiode nicht weitergeführt. Insbesondere eine Reform der Notfallversorgung bietet allerdings die große Chance als Blaupause und Wegbereiter für die Gestaltung und Finanzierung einer engen sektorenverbindenden Zusammenarbeit.
Pandemiemanagement optimieren
Die Erfahrungen der letzten 14 Monate haben gezeigt, dass das Pandemiemanagement sowie die Krisenreaktionsfähigkeit im Falle einer pandemischen Lage dringend optimiert werden müssen. Im Infektionsschutzgesetz sollten feste Krisenstäbe der Bundesländer unter Einbezug der Landesärztekammern mit klar definierten Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten angelegt werden. Notwendig sind gesetzlich vorgegebene regelmäßige Übungen für alle an der Umsetzung der Pläne Beteiligten, insbesondere für die Krankenhäuser vor Ort. Ferner sind die Pandemiepläne von Bund, Ländern, Kommunen und Gesundheitseinrichtungen zu aktualisieren. Für den Ernstfall müssen Reserven für relevante Medizinprodukte, wichtige Arzneimittel und Impfstoffe angelegt werden. Notwendig sind außerdem mehr innereuropäische Produktionsstandorte für Medizinprodukte und wichtige Arzneimittel, um sich von den Weltmärkten unabhängiger zu machen. Erforderlich sind europaweit vernetzte Meldestrukturen und der effiziente Aufbau einer zentralen europäischen Koordinierungsstelle, die kurzfristig Auftragsvergabeverfahren für dringend benötigte Arzneimittel oder Schutzausrüstung durchführen und die Verteilung organisieren kann.
Für ein besseres Verständnis des Infektionsgeschehens ist eine Steigerung der Obduktionsrate unerlässlich. Darüber hinaus bedarf es mindestens einer Verbesserung der Surveillance, um zu einer genaueren Beurteilung des Pandemiegeschehens zu kommen sowie eine flexibel ausgestaltete Impfpriorisierung, die jederzeit an das Infektionsgeschehen und die Impfmöglichkeiten angepasst werden kann. Neben der Impfstoffentwicklung und -produktion ist die Förderung der Forschung an Medikamenten zur Behandlung einer Covid-19-Erkrankung durch den Bund zu intensivieren.
Der 124. Deutsche Ärztetag 2021 stellt fest, dass es im Verlauf der Pandemie nicht in ausreichendem Maße gelungen ist, besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen, insbesondere in Alten- und Pflegeheimen, vor Ansteckung zu schützen. Aus dieser Erfahrung heraus sind geeignete Konzepte zum Schutz vulnerabler Gruppen in pandemischen Lagen zu erarbeiten. Einrichtungsbezogene Pandemiepläne müssen regelmäßig an möglicherweise neue organisatorische Gegebenheiten der Einrichtungen und medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse angepasst werden. Neben der Fachkräftesicherung und der Nachwuchsförderung in der Altenpflege müssen die finanziellen, organisatorischen und strukturellen Voraussetzungen geschaffen werden, um Alten- und Pflegeheime im Hygiene- und Infektionskontrollmanagement zu unterstützen.
Der 124. Deutsche Ärztetag spricht sich außerdem für eine medizinisch-wissenschaftliche Evaluation aller Kollateraleffekte von Eindämmungs- und Schutzmaßnahmen im Hinblick auf den Zugang zur medizinischen Akutversorgung und zu notwendigen Vorsorgeleistungen sowie mögliche psycho-soziale Auswirkungen des Lockdowns aus. Für die weitere Krisenbewältigung und zur Vorbereitung auf zukünftige pandemische Lagen ist die Entwicklung von Handlungsstrategien zur Vermeidung derartiger Kollateraleffekte unerlässlich.
Der 124. Deutsche Ärztetag fordert die Etablierung eines ständigen multiprofessionellen Pandemierates mit medizinischer Expertise, der in die Beratungen von Bund und Ländern einzubinden ist.