Baden-Württemberg: Kammerpräsident Dr. Miller: "Ärzteschaft ist dem Erhalt des Lebens verpflichtet"
Stuttgart - Die Ärzteschaft setzt sich beim virtuellen Deutschen Ärztetag in der kommenden Woche mit der gesetzlichen Neuregelung der Sterbehilfe auseinander und berät über Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum § 217. Die delegierten Ärztinnen und Ärzte aus Baden-Württemberg werden sich intensiv an dieser Debatte beteiligen. „Wir müssen uns mit dem Thema beschäftigen, da es Kernfragen des Selbstverständnisses unseres Berufes berührt“, sagt Dr. Wolfgang Miller, Präsident der Landesärztekammer Baden-Württemberg. Die Materie sei komplex, daher wäre der persönliche Austausch der Abgeordneten sehr wichtig gewesen, was die Corona-Pandemie leider verhindere.
Der Wunsch eines Menschen nach Sterbehilfe ist gesellschaftliches Tabu, juristischer Schulfall und ethische Zwickmühle. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Jahr 2020 unter anderem aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht auf ein Recht des Einzelnen auf selbstbestimmtes Sterben geschlossen; die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasse auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und in Anspruch zu nehmen. Werden Ärztinnen und Ärzte dadurch zu Sterbehelfern? – Die Haltung von Kammerpräsident Dr. Miller ist eindeutig: „Ich halte Suizidassistenz für keine ärztliche Tätigkeit. Mit dem Gerichtsurteil geht nicht einher, dass Ärztinnen und Ärzte zu Sterbehelfern werden für alle, die aus dem Leben scheiden wollen. Hier geht es auch um die grundsätzliche Abgrenzung ärztlicher Tätigkeit.“
Weiter betont der Kammerpräsident: „Die Ärzteschaft ist durch ihre Berufsordnung dem Erhalt des Lebens verpflichtet sowie der palliativen Begleitung von Sterbenden. Wenn es aber darum geht, nicht Schwerkranken – also beispielsweise Menschen in Lebenskrisen – bei der Verwirklichung des Sterbewunsches zu helfen, kann dies nicht unsere Aufgabe sein.“ Es gehöre zwar zum ärztlichen Alltag, sich mit Suizidgedanken und -wünschen von Patienten auseinanderzusetzen. „Es gilt aber die Maxime: Ärztinnen und Ärzte sind dem Leben verpflichtet“, betont der Kammerpräsident.
Als Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer und Co-Vorsitzender des zuständigen Ausschusses Berufsordnung weiß Dr. Miller um die bundesweit geführten ärztlichen Diskussionen. Es bestehe dabei überwiegend Konsens, dass Suizid-Beihilfe nicht zur Alltäglichkeit werden dürfe. Positiv sei nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts anzumerken, dass keine Ärztin und kein Arzt strafrechtliche Konsequenzen zu befürchten habe, wenn der Patient bei einer unheilbaren schweren, gegebenenfalls schmerzhaften Krankheit zur Linderung entsprechende Medikamente erhält, selbst wenn dadurch der ohnehin unvermeidliche Tod im Einzelfall früher eintritt. Die Beschwerdeführer aus dem Kreis der Palliativmedizin hätten damit einen Erfolg für die Rechtssicherheit einer umfassenden Palliativmedizin errungen.
Die Muster-Berufsordnung der Bundesärztekammer, die als Vorlage für die föderalen Regelungen der 17 Landesärztekammern dient, beschreibt in § 16 „Beistand für Sterbende“: „Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patientinnen und Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“ Vor dem Hintergrund des Gerichtsurteils könnte der letzte Satz als formell verfassungswidrig angesehen werden. Zur Debatte über die Neugestaltung der Sterbehilfe auf dem Deutschen Ärztetag gehört daher auch die Frage, inwieweit die Landesärztekammern ihre jeweiligen Berufsordnungen anpassen, beispielsweise durch Streichung des letzten Satzes.
In Baden-Württemberg sind die letzten beiden Sätze seit jeher nicht Bestandteil der ärztlichen Berufsordnung, weil schon im Strafrecht klar formuliert. Deshalb sind im Südwesten keine Änderungen des Paragraphen 16 geplant; der aktuelle Text der hiesigen Berufsordnung beinhaltet allein den folgenden Satz: „Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen.“
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist nun an erster Stelle die Politik gefordert, die Rahmenbedingungen für den assistierten Suizid neu zu gestalten; die Ärzteschaft bleibt bei diesem Vorhaben erster Ansprechpartner. Kammerpräsident Dr. Miller sieht die Parlamentarier in der Verantwortung, dem Schutz des Lebens gleich hohe Priorität wie der Selbstbestimmung des Einzelnen zu gewähren. Freie Entscheidungen respektieren und dennoch das Leben schützen – dies sei auch fester Grundsatz des ärztlichen Wirkens.
Nach den Worten von Dr. Miller sind viele kontextuelle Fragen noch ungeklärt: „Politik und Gesellschaft werden sich intensiv mit der künftigen Ausgestaltung der Sterbehilfe auseinandersetzen: beispielsweise, wie sich die Freiverantwortlichkeit des Sterbewunsches nachweisen lässt, ob Sterbewilligen eine Pflichtberatung auferlegt werden sollte, ob der Suizidassistenz eine Kommissionsentscheidung vorausgehen sollte, ob auch Minderjährige ein Recht auf Suizid haben, wer das todbringende Medikament verschreiben soll. Zu all diesen Fragen werden wir auch als Ärztinnen und Ärzte auf dem Deutschen Ärztetag und danach die Diskussion weiterführen. Vor allem müssen wir nach meiner festen Überzeugung allen aktuellen und künftigen Bestrebungen nach einer aktiven Sterbehilfe entschieden entgegentreten. Mindestens ebenso wichtig wird es sein, eine wirkungsvolle Suizidprävention gesetzlich und gesellschaftlich zu befördern.“