Der Suizid darf nicht zur gesellschaftlichen Normalität werden

Gemeinsame Pressemitteilung von BÄK, NaSPro, DGPPN und DGP
Selbsttötung

Die Bundesärztekammer, wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaften und das Nationale Suizidpräventionsprogramm warnen davor, die gesetzliche Neuregelung der Suizidbeihilfe übereilt und ohne ausführliche Debatte noch vor der Sommerpause durch den Deutschen Bundestag zu bringen.

Die beiden zur Abstimmung vorliegenden Gesetzentwürfe sind erst vor kurzem zusammengeführt worden (Helling-Plahr, Künast et al.) oder sollen noch überarbeitet werden (Castellucci et al.). Eine gründliche Befassung im Parlament sowie ein gesellschaftlicher Diskurs über die jeweiligen Entwürfe sei in der Kürze der Zeit nicht möglich. Statt im dichtgedrängten Programm der letzten Sitzungswoche eine für die Betroffenen und die Gesellschaft als Ganzes so weitreichende Entscheidung herbeizuführen, sollte die Sommerpause für die Meinungsbildung und die dringend erforderliche Weiterentwicklung der jeweiligen Regelungsvorschläge genutzt werden, fordern die Bundesärztekammer (BÄK), das Nationale Suizidpräventionsprogramm (NaSPro), die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) sowie die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP).

Dazu Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer: „Insbesondere der Entwurf der Parlamentariergruppe um die Abgeordneten Katrin Helling-Plahr und Renate Künast wird der Komplexität von Suizidgedanken und Suizidhandlungen nicht gerecht.  Nur eine einzige informierende Beratung und eine Wartezeit von lediglich drei Wochen, bevor ein Suizidmittel verschrieben und ein assistierter Suizid ermöglicht werden kann, reichen nicht aus, um die Freiverantwortlichkeit der Suizid-Entscheidung sicherzustellen. Dies gilt umso mehr, weil die Einbeziehung psychiatrischer und psychotherapeutischer Kompetenz in dem Entwurf nicht verbindlich vorgegeben wird. Der Entwurf würde außerdem einer gesellschaftlichen Normalisierung des Suizides Vorschub leisten. Er verlagert die Verantwortung für wichtige Entscheidungen, insbesondere dazu wie gewinnorientierte Angebote verhindert werden, die Zuverlässigkeit organisierter Hilfe zur Selbsttötung geprüft werden sowie welche Qualifikationsanforderungen konkret an die in den Beratungsstellen Beschäftigten zu stellen sind auf eine Rechtsverordnung der Bundesregierung und auf die Bundesländer. Für Ärztinnen und Ärzte bringt der Gesetzentwurf zudem erhebliche strafrechtliche Risiken mit sich.“

Prof. Dr. Reinhard Lindner, Nationales Suizidpräventionsprogramm für Deutschland: „Wenn es leichter ist, sich über einen festgelegten Regelungsweg assistiert zu suizidieren als Hilfe und Unterstützung zum Weiterleben zu erhalten, wird die Möglichkeit zu einer selbstbestimmten Entscheidung über das eigene Leben eingeschränkt. Wir rechnen in diesem Fall mit einer deutlichen Zunahme vermeidbarer Suizide in Deutschland. Die gesetzlich finanzierten Beratungsstellen, die in diesem Entwurf vorgesehen sind, helfen Menschen nicht in suizidalen Krisen zu einer freiverantwortlichen und selbstbestimmten Entscheidung zu kommen. Beratungen können nicht ergebnisoffen sein, wenn sie in einem Kontext zur Suizidhilfe stattfinden”.

Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde: „Im Jahr 2021 starben über 9.000 Menschen in Deutschland durch Suizid – die meisten im Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung. Auf jeden Suizid kommen 10 bis 20 Suizidversuche. Sehr häufig sind suizidale Menschen aufgrund einer schweren psychischen Erkrankung nicht in der Lage, diese Entscheidung frei und selbstbestimmt zu treffen. Diese Menschen brauchen Unterstützung. Sie brauchen medizinische Hilfe und sie müssen vor dem irreversiblen Schritt eines Suizides effektiv geschützt werden. Diese große Gruppe der schwer psychisch kranken Menschen darf nicht vergessen werden. Die DGPPN sieht für ihren effektiven Schutz im Sinne des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zwei Dinge als zentral an: die verlässliche, fachärztliche Beurteilung des freien Willens und die unmittelbare Bereitstellung von Hilfen, wenn ein Suizidwunsch nicht auf freiem Willen beruht.“

Heiner Melching, Geschäftsführer Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e.V.: „Beide vorliegenden Gesetzesentwürfe bieten scheinbar einfache Lösungen für ein sehr komplexes Problem und sind das Ergebnis einer überwiegend juristischen Perspektive, die der Individualität von Sterbewünschen und der Lebenswirklichkeit von Betroffenen und im Gesundheitswesen Tätigen in keiner Weise gerecht wird. Es kann aus unserer Sicht nicht gelingen, die Anliegen schwerstkranker Menschen, einsamer Hochaltriger oder auch junger Menschen, die in einer Krise ihr Leben beenden wollen, in eine Rechtsnorm zu pressen. Ebenso wenig qualifiziert allein das Vorliegen einer ärztlichen Approbation dazu, Suizidwünschen angemessen zu begegnen. Ärztliches Handeln ist von Verantwortung und einem Beziehungsgeschehen getragen und darf bei derart existenziellen Fragen nicht zur bloßen Dienstleistung und einem „Sterben nach Checkliste“ degradiert werden. Damit ließe man Menschen mit Suizidwünschen wie auch ihre Angehörigen letztlich sehr allein.“