Quitterer: Versorgungsaspekte in den Vordergrund stellen
Vor dem 82. Bayerischen Ärztinnen- und Ärztetag greift Dr. Gerald Quitterer, Präsident der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK), drängende Probleme der Ärzteschaft auf. Ob Bürokratieabbau, Medizinstudienplätze, Patientensteuerung, Arzneimittelsicherheit oder digitale Anwendungen im Gesundheitswesen – es geht um die Versorgung der Patientinnen und Patienten. Dazu benötigten Ärztinnen und Ärzte mehr Freiheit und Vertrauen seitens der Politik und keine Gesetzesflut.
Arzneimittel
Ein drängendes Problem ist aktuell das Fehlen wichtiger Arzneimittel, was sich im kommenden Herbst und Winter noch verstärken dürfte. Der Präsident warnt davor, die Arzneimittelversorgung in wenigen Händen zu konzentrieren und somit zu starke Abhängigkeiten zu schaffen. Er fordert deshalb eine Rückverlagerung der Produktion von kritischen Arzneimitteln nach Europa, ausgerichtet auf Nachhaltigkeit und Klimaneutralität, sowie einen Ausbau der Lagerhaltung. Auch die umweltschonende Verpackung von Arzneimitteln müsse angegangenen werden. „Die Zeit für die Einführung eines ‚Fair-Trade-Gütesiegels‘ ist reif“, so Quitterer.
Kindergesundheit und Gesundheitskompetenz
Der Präsident plädiert für eine frühzeitige Stärkung der Gesundheitskompetenz von Kindern und Jugendlichen in Kindergärten und Schulen durch Aufnahme entsprechender Bildungsinhalte in die Lehrpläne. Vor allem durch Förderung gesunder Ernährung und von Bewegung könne auf diese Weise gesundheitsbewusstes Verhalten und damit eine wirksame Krankheitsprävention erreicht werden. Auch zunehmendes Suchtverhalten von Kindern und Jugendlichen, vor allem bei der Nutzung digitaler Medien, solle so in den besonderen Blick genommen werden. „Neben der Einrichtung eines Kinderbeauftragten in Bayern bin ich dafür, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen (und damit die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen umzusetzen), damit Kinder nicht Spielball von politischen Interessen, wie beispielsweise der Streichung des Rauchverbotes im Auto, werden“, so Quitterer.
Darüber hinaus brauche es eine stärkere Sensibilisierung der Bevölkerung zum Umgang mit Herausforderungen des Alltags und der sich verändernden Umwelt, wie Schutz vor Hitze oder vor neuen Erkrankungen. Dazu zählt der verantwortliche Umgang mit der eigenen Gesundheit und der der Mitmenschen. Gerade zu Beginn einer neuen Infektwelle sei es deshalb nötig, durch rücksichtvolles Handeln der Verbreitung von Krankheiten entgegenzuwirken. Auch künftige Umweltbelastungen können wir nur auf diese Weise meistern. Hier appelliere ich an die neue Staatsregierung, entsprechende Programme zusammen mit der Ärzteschaft zu entwickeln und umzusetzen.
Klimawandel und Gesundheit
Wir brauchen eine enkeltaugliche Gesundheitspolitik. Dazu gehört neben dem Ausbau der Prävention auch der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen. Gesundheitsschutz für die Zukunft bedeute deshalb nicht nur weiterhin ein aktives Bekenntnis der neuen Bayerischen Staatsregierung zum Umweltschutz und zur Bekämpfung des Klimawandels, insbesondere unter dem Aspekt auf die Auswirkungen für die Gesundheit, sondern auch die Umsetzung bestehender und noch zu vereinbarender Ziele im Sinne von „Health in all policies“. Deshalb müsse in diesem Zusammenhang auch das von der WHO 2010 geforderte Menschenrecht auf Wasser bei uns gesetzlich verankert werden.
Niederlassungsförderung
„Von der neuen Regierung erwarte ich mir auch eine klare Positionierung zur Unterstützung der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, was ich im Wahlkampf weitgehend vermisst habe. Hier ging es – bei aller Dringlichkeit – fast ausschließlich um die Krankenhäuser, “ so Quitterer: „Wir niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sind Pfeiler der Versorgung, unsere Praxen sind Weiterbildungsstätten und die Förderung der Selbstständigkeit fungiert als tragende Säule in der Wirtschaft“. Ärztinnen und Ärzte im haus- und fachärztlichen Bereich fänden keine Nachfolgerinnen und Nachfolger für die Praxen, weil die Rahmenbedingungen nicht mehr passten. Es bestehe ein „Ungleichgewicht zwischen Aufwand und Ertrag, überbordender Bürokratie, Zwang zur Anwendung einer dysfunktionalen Telematik-Infrastruktur (TI) mit Androhung von Strafzahlungen, so Quitterer. Dazu komme die jüngste Entscheidung des Bundesrechnungshofes.
Angriff auf die ambulante Versorgung
Der Bundesrechnungshof (BRH) hat jüngst einen Prüfbericht vorgelegt, in dem er die Streichung des kompletten Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) fordert. Die dort verankerten und mit dem „GKV-Finanzstabilisierungsgesetz“ teilweise modifizierten extrabudgetären Leistungen sollten entfallen. In diesem Zusammenhang kritisiert der BRH zudem die Pläne der Koalition, die Budgetierung für die 55.000 Hausärztinnen und -ärzte aufzuheben. Dies komme allenfalls für Hausärztinnen und -ärzte in unterversorgten Regionen in Betracht und dies auch nur dann, wenn die „Zielerreichung“, die Versorgung zu verbessern, regelmäßig überprüft werde. Darüberhinausgehende Entbudgetierungen lehnt der BRH hinsichtlich der finanziellen Lage der GKV ab. Leistungen, die sich bei der Überprüfung als nicht förderungswürdig erweisen, sollen zurück unter den Budgetdeckel, fordert der BRH. „Damit wird die berechtigte Forderung der Praxen nach vollständiger Vergütung der erbrachten Leistungen in Frage gestellt, obwohl das TSVG dies gerade gefordert hatte“, so Quitterer.
Entbürokratisierung
Als Beispiel für den zunehmenden Bürokratiedschungel in den Praxen nennt der Präsident neue Vorgaben zur Erfassung von Patientendaten. Beispielhaft an der semantisch und didaktisch interoperablen Form der Datenlieferung in der elektronischen Patientenakte, was für die Praxen einen exponentiellen Zuwachs an Bürokratie bedeuten würde, drängt der Präsident auf einen Bürokratieabbau: „Wir sind für unsere Patientinnen und Patienten nur noch für die Datengewinnung da“. Die Regierung wolle sparen – auch in der Gesundheitspolitik. Dabei plane das Bundesgesundheitsministerium die Umsetzung vieler ehrgeiziger Ziele, wobei eines der wichtigsten, die Entbürokratisierung, wohl auf der Strecke bleiben werde, befürchtet Quitterer im Vorfeld des 82. Bayerischen Ärztinnen- und Ärztetags. Für Bayerns Ärztekammerpräsident steht der Bürokratieabbau hingegen ganz oben auf der Agenda. „Entbürokratisierung heißt für mich, nicht darüber nachzudenken, welche ärztlichen Leistungen andere Gesundheitsfachberufe übernehmen könnten (Substitution), sondern vielmehr, an welcher Stelle im Behandlungsprozess wir Ärztinnen und Ärzte von Bürokratie entlastet werden können, damit wir wieder mehr Zeit für unsere ärztliche Tätigkeit und die Versorgung am Patienten haben“. In diesem Zusammenhang fordert Quitterer eine Änderung der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung, der zufolge in Pflegeheimen auch bei den selbst betreuten Patientinnen und Patienten eine monatliche Kontrolle des Betäubungsmittelbestandes durchgeführt werden müsse. „Einmal im Quartal ist völlig ausreichend, alles andere überzogen und unnötig belastend“,
Patientensteuerung
Es müsse wieder ein „Einklang von überbordender Inanspruchnahme und schwindenden Ressourcen“ hergestellt werden. Eine der großen Herausforderungen der Zukunft sei laut Präsident Quitterer die Patientensteuerung in der Versorgung. „Derzeit stellen wir fest, dass ein ungesteuerter Zugang zum Gesundheitswesen dieses solidarisch finanzierte System an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit bringt: Jeder zu jeder Zeit überall von jedem alles – dieser Anspruch muss auf den Prüfstand“. Eine strukturierte medizinische Ersteinschätzung der Behandlungsanliegen und eine Lenkung an den richtigen Behandlungsort sei gerade in den Notaufnahmen der Krankenhäuser unter Einbeziehung der Niedergelassenen dringend notwendig. Die Digitalisierung könne hier hilfreich unterstützen, um die richtige Versorgungsebene gerade in der Notfallversorgung für die Patienten transparent darzustellen.
Digitalisierung
Bayerns Ärztekammerpräsident Quitterer übt vor allem Kritik am Gesundheitsdatennutzungsgesetz. Neben einer transparenten Umsetzung und hohen Standards beim Datenschutz seien fein differenziertere Widerspruchsmöglichkeiten unerlässlich. „Eine granulare Einwilligung muss barrierefrei möglich sein;“, sagt Bayerns Ärztekammerpräsident und meint damit, „dass eine Patientin oder ein Patient beispielsweise der Erfassung seiner Gesundheitsdaten durch den Arzt zustimmen können muss, ohne dass die Daten automatisch auch zu Forschungszwecken verwendet werden“. Dies stehe für die „Freiheit und die Verantwortung in der ärztlichen Profession und damit für aktiven Patientenschutz“, so Quitterer. Das System müsse für Ärzte und alle anderen Akteure in der Versorgung praktikabel bleiben und eine gemeinwohlorientierte Nutzung der Daten müsse definiert werden. Dringenden Korrekturbedarf sieht Quitterer bei der Integration der Digitalisierung in die Arbeitsabläufe in den Praxen. „Digitale Anwendungen müssen uns und unsere Mitarbeitenden sinnvoll unterstützen und entlasten, damit wieder mehr Zeit für Diagnostik und Behandlung bleibt“. „Außerdem darf es Krankenkassen künftig nicht gestattet sein, auf der Basis von Abrechnungsdaten versichertenindividuelle Auswertungen durchführen und so unmittelbar in die Patientenbehandlung eingreifen zu können. „Krankheitsfrüherkennung oder gar die Identifikation akuter Gesundheitsgefährdungen allein auf Basis von Abrechnungsdaten ist sehr unzuverlässig und kann medizinisch sogar fahrlässig sein“, kritisiert der BLÄK-Präsident. Dies würde Patientinnen und Patienten ebenso verunsichern wie deren behandelnde Ärztinnen und Ärzte.
Last but not least: „Wir mahnen noch immer mehr Studienplätze für Medizin, auch unter Berücksichtigung der Niederlassungsbereitschaft an, die Umsetzung der neuen Approbationsordnung, eine funktionierende TI ohne Strafzahlungen und eine gerechte Vergütung“, so Quitterer.