Westfalen-Lippe: ÄKWL positioniert sich zur geplanten Gesundheitspolitik der neuen Bundesregierung
Münster - Aus Sicht der westfälisch-lippischen Ärzteschaft enthält der Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen - Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ der neuen Bundesregierung Licht und Schatten, so das Votum sowohl der Kammerversammlung der Ärztekammer Westfalen-Lippe (ÄKWL) als auch des Kammervorstandes. „Bei vielen Punkten wird es auf die konkrete politische Umsetzung ankommen“, sagt Kammerpräsident Dr. Hans-Albert Gehle, der in einem Brief an die Mitglieder des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages die Positionierung der ÄKWL zum Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP dargelegt hat.
Die verfasste Ärzteschaft in Westfalen-Lippe sei jederzeit zu einem gesundheitspolitischen Dialog mit politischen Vertretern auf Landes, aber natürlich auch auf Bundesebene bereit, um so zu einer positiven Fortentwicklung des Gesundheitssystems im Sinne der Bewahrung einer qualitativ hochstehenden Patientenversorgung konstruktiv beizutragen, so der Kammerpräsident. Es sei wichtig, dass die Ärzteschaft sich nachhaltig in die künftige gesundheitspolitische Debatte einbringen könne. „Dafür ist es aus unserer Sicht jedoch auch notwendig, dass die Politik die Stimme der Ärzteschaft und vor allem deren wesentliche Rolle im Gesundheitswesen wahrnimmt.“
Der Stellungnahme im Wortlaut:
1. Überwindung der Sektorengrenzen
Prioritär verfolgt die Bundesregierung im Koalitionspapier das Ziel einer sektorenübergreifenden Gesundheits- und Pflegepolitik. Die ambulante Bedarfs- und stationäre Krankenhausplanung sollen zu einer sektorenübergreifenden Versorgungsplanung weiterentwickelt werden. Tatsächlich sind die Versorgungsbrüche an den Sektorengrenzen auch aus Sicht der Ärzteschaft ein zentrales Problem unseres Gesundheitssystems.
2. Medizinstudium
Ein zentrales Problem ist der große Mangel an Ärzten und Ärzten in der ambulanten und stationären Versorgung sowie im öffentlichen Gesundheitsdienst. Enttäuschend ist, dass dies leider mit keinem Wort im Koalitionsvertrag erwähnt wird. Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung gab es in Deutschland 15.000 Studienplätze Medizin, jetzt sind es noch knapp 10.000. In Westfalen-Lippe hat die Hälfte aller jedes Jahr neu hinzukommenden Ärztinnen und Ärzte keinen deutschen Hochschulabschluss. Die fehlenden Studienplätze in der Medizin werden seitens der Politik nicht thematisiert. Der Lösungsansatz der Koalitionspartner, die beschleunigte und vereinfachte „Gewinnung von ausländischen Fachkräften und die Anerkennung von im Ausland erworbener Berufsabschlüsse“ fördert einen unsolidarischen Brain-Drain aus Ländern, deren Gesundheitssysteme einen noch größeren Personalmangel haben als wir in Deutschland. So werden sich die Probleme des Ärztemangels nicht lösen lassen. Die Kammerversammlung der Ärztekammer Westfalen-Lippe fordert daher 3000 zusätzliche neue Studienplätze der Humanmedizin.
3. Pflege
Ein Schwerpunkt des Koalitionsvertrages ist die notwendige Stärkung der Pflege. In der Corona-Krise haben die Pflegefachkräfte - ebenso wie Ärztinnen und Ärzte - Herausragendes geleistet. Der Koalitionsvertrag zielt auf sinnvolle Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, zum Beispiel mit einer Pflegepersonalregelung 2.0. Neu geschaffen werden soll das Berufsbild einer Community Health Nurse. Gemeindeschwestern sollen als Lotsen im Gesundheitswesen wirken. Einen Lotsen gibt es aber bereits im Gesundheitswesen, denn dies ist eine Kernkompetenz von Hausärztinnen und Hausärzten.
4. Digitalisierung
Deutschland hinkt bei der Digitalisierung hinterher, auch im Gesundheitswesen. Es ist daher richtig, Digitalisierung im Gesundheitswesen als ein wichtiges Ziel zu formulieren. Es bleibt zu hoffen, dass nach den bisherigen - eher bescheidenen - Erfahrungen mit gematik, eHBA, ePA, eAU, zielführende Lösungsansätze gewählt werden. Stichworte wie telemedizinische Leistungen inklusive Arznei-, Heil- und Hilfsmittelverordnungen, Videosprechstunden, Telekonsile, Telemonitoring und telenotärztliche Versorgung klingen vielversprechend, bedürfen aber einer ausreichenden Finanzierung.
5. Öffentlicher Gesundheitsdienst (ÖGD)
Die Corona-Pandemie hat drastisch gezeigt, wie notwendig es ist, den ÖGD zu stärken. Jeder Ansatz in diese Richtung ist zu begrüßen, so etwa die im Koalitionsvertrag angesprochene Verlängerung der Einstellungsfristen und die Klärung der Frage, welche Mittel für einen dauerhaft funktionsfähigen ÖGD notwendig sind. Darum wäre jedoch nicht nur ein „Appell für einen eigenständigen Tarifvertrag“ notwendig, sondern dessen Zusicherung und zügige Implementierung. Tarifpartner des ÖGD ist die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände, also der Staat selbst. Die Rolle der Ärzteschaft im ÖGD muss gewürdigt werden.
6. Reform der Notfallversorgung
Ein Schritt in Richtung einer sektorenübergreifenden Versorgung ist auch die sinnvolle Verschränkung der Rettungsleitstellen mit den KV-Leitstellen und der angesprochene Einsatz standardisierter Einschätzungssysteme. Erfahrungen dazu in einem Modellprojekt in Ostwestfalen sind positiv. Auch die Entwicklung eines integrierten Leistungsbereiches im SGB V kann den Rettungsdienst stärken. Aber leider gilt auch: Das Festhalten an integrierten Notfallzentren, wie sie der bereits existierende Gesetzentwurf „Reform der Notfallversorgung“ skizziert, bedroht die gewachsene und erfolgreiche Struktur der Portalpraxen in Westfalen-Lippe.
7. Ambulante Versorgung
Ausdrücklich begrüßt die Ärzteschaft die im Koalitionsvertrag beabsichtigte Aufhebung der Budgetierung der ärztlichen Honorare im hausärztlichen Bereich. Diese Aufhebung darf jedoch nicht zu Lasten des fachärztlichen Bereichs geschehen. Zu kritisieren ist der geplante Verlust an Autonomie für die ärztliche Selbstverwaltung, wenn die Koalitionspartner „gemeinsam mit den Kassenärztlichen Vereinigungen die Versorgung in unterversorgten Regionen“ sicherstellen wollen. Kann der Bund wirklich die kleinräumige Bedarfsplanung sachgerecht und kompetent umsetzen? Völlig widersprüchlich ist, wenn im Gegensatz zum angestrebten Abbau bürokratischer Hürden die Entscheidungen der Zulassungsausschüsse unter Vorbehalt behördlicher Genehmigungen gestellt werden.
8. Stationäre Versorgung - Krankenhaus
Die negativen Auswirkungen eines auf Wettbewerb ausgerichteten Finanzierungssystems im stationären Sektor für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und insbesondere Patientinnen und Patienten sind von der Ärzteschaft in der Vergangenheit oft und wiederholt thematisiert worden. Die jetzt angekündigte auskömmliche Finanzierung in den besonders betroffenen Bereichen Kinder- und Jugendmedizin, Notfallversorgung und Geburtshilfe und die Ergänzung der DRGs um Vorhaltepauschalen sind ein Schritt in die richtige Richtung, jedoch fehlt der politische Wille für einen „echten“ Ausstieg aus den DRGs. Eine auf Leistungsgruppen basierende Krankenhausplanung erinnert an die in Nordrhein-Westfalen an den Start gegangene Krankenhausplanung, an der die Ärztekammern Nordrhein und Westfalen-Lippe konstruktiv mitgearbeitet haben. Mit Besorgnis sehen wir, dass der Bund mindestens Teile der Krankenhausplanung an sich ziehen will.
9. Weiterbildung
Wenn die Koalitionspartner die Mittel für die Weiterbildung der Ärztinnen und Ärzte in den DRGs nur noch den Kliniken zukommen lassen wollen, die auch tatsächlich weiterbilden, klingt dies gut und sinnvoll. Aber welche Mittel für die Weiterbildung sind in den DRGs überhaupt kalkuliert? Die Kalkulation der DRGs basiert auf Tarifgehältern, Zuschläge für Weiterbildung sind dort nicht vorgesehen. Das von den Koalitionspartnern geplante aktualisierte Konzept zur Fortentwicklung der Qualifizierung von Ärztinnen und Ärzten, um auch medikamentöse Schwangerschaftsabbrüche leichter verfügbar zu machen, besteht bereits und nennt sich „Ärztliche Weiterbildung“. Die Probleme beim medikamentösen Schwangerschaftsabbruch beruhen nicht auf einer fehlenden Qualifizierung der Ärzteschaft.
10. Gesundheitsfinanzierung
Positiv hervorzuheben sind im Koalitionspapier die Vorschläge zur Verbesserung der Finanzgrundlage der GKV aus Steuermitteln durch eine Dynamisierung des Bundeszuschusses zur GKV sowie die höheren Beiträge für die Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II aus Steuermitteln.