Suizidprävention ausbauen, strukturieren und untereinander vernetzen
In Deutschland nehmen sich jedes Jahr etwa 9 200 Menschen das Leben. Die Zahl der Suizidversuche liegt um ein Vielfaches höher. Das Bundesverfassungsgericht hat Ende 2021 das Recht auf selbstbestimmtes Sterben anerkannt. Gesetzesentwürfe dazu werden im Bundestag bereits beraten. Auf der Tagung „BÄK im Dialog – Suizidprävention vor Suizidhilfe“ diskutierten Expertinnen und Experten Mitte Oktober 2022 darüber, wie suizidgefährdeten Menschen Perspektiven aufgezeigt und Präventionsangebote besser vernetzt werden können.
Aus Sicht der Bundesärztekammer (BÄK) sind die öffentliche wie auch die parlamentarische Debatte bisher zu stark darauf ausgerichtet, wie ein Suizidwunsch verwirklicht werden kann. Im Fokus stehen schwer Erkrankte und die vielfältigen Möglichkeiten der Palliativmedizin. Vor allem aber Menschen mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen haben ein erhöhtes Suizidrisiko. Sie erleben großes Leid, sind hoffnungslos und glauben nicht daran, dass es ihnen je wieder besser gehen wird.
Bundesärztekammer-Präsident Dr. Klaus Reinhardt forderte deshalb, Angebote für Suizidprävention auszubauen, zu strukturieren und enger untereinander zu vernetzen. „Es ist gut und richtig, dass sich der Gesetzgeber intensiv und fraktionsoffen mit der Neuregelung der Suizidhilfe in Deutschland beschäftigt. Wir müssen aber vor allem auch die Frage stellen, wie wir mit Maßnahmen zur Suizidprävention Menschen erreichen können, die insbesondere aufgrund psychischer Erkrankungen Suizidgedanken haben“, sagte Reinhardt zur Eröffnung von „BÄK im Dialog“.
Auf der BÄK-Tagung gab zunächst Prof. Dr. Karsten Gaede von der Bucerius Law School einen Überblick über die bislang in den Bundestag eingebrachten Gesetzentwürfe zur Regelung der Suizidhilfe. Auch Gaede betonte, dass der Aspekt der Suizidprävention nicht aus dem Blick geraten dürfe. Vor allem die von Abgeordneten des Bundestages bereits geforderte Einrichtung einer bundesweiten und dauerhaft verfügbaren Krisen-Hotline für Menschen mit Suizidgedanken hält er für einen bedeutsamen und notwendigen Schritt.
Aus wissenschaftlicher Perspektive beleuchtete Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention und der European Alliance Against Depression, das Thema Suizidprävention. Er betonte, dass circa 90 Prozent der Suizide vor dem Hintergrund einer Depression oder anderer psychischer Erkrankungen erfolgen. In dem gemeindebasierten suizidpräventiven Interventionskonzept der Stiftung stellt die intensive Behandlung psychischer Erkrankungen aus diesem Grund einen wichtigen Baustein dar.
Bezüglich der Suizidassistenz sei es wichtig auszuschließen, dass der Suizidwunsch Folge des Leidens und der verzerrten Weltsicht im Rahmen einer behandelbaren depressiven oder anderen psychischen Erkrankung ist. Dies sei oft nicht einfach. Hierfür sei eine gründliche Untersuchung durch erfahrene Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie nötig, erklärte Hegerl, der auch Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer ist.
Kommunale Möglichkeiten der Suizidprävention stellte Dr. Christiane Schlang, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiterin der Abteilung Psychiatrie/Psychiatriekoordination der Stadt Frankfurt am Main vor. Sie berichtete über das im Jahr 2014 gegründete Frankfurter Netzwerk für Suizidprävention (FRANS). Zu dem Netzwerk zählen unter anderem Kliniken, Rettungsdienste, Kirchen, die Polizei, städtische Ämter, Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen.
Schlang forderte verlässliche Finanzierungszusagen für kommunale Suizidpräventionsprogramme. Erforderlich sei eine flächendeckende Versorgung mit regionalen Suizidpräventionsstellen, die kommunal verankert und bundesweit vernetzt sind. Ebenso wie ihre Vorredner sprach auch sie sich für den Aufbau einer bundesweit einheitlichen Krisenhotline aus, die regional gesteuert wird.
San.-Rat Dr. Josef Mischo, Berufsordnungsexperte der Bundesärztekammer und Beauftragter des BÄK-Vorstandes für die Charta Palliativmedizin, befasste sich aus berufspolitischer Perspektive mit der Suizidprävention. „Ärztinnen und Ärzte müssen entsprechend der berufsrechtlichen Verpflichtung zur Ausübung des ärztlichen Berufes nach dem aktuellen Stand der Erkenntnisse eine sorgfältige und genaue Analyse der Hintergründe eines Sterbewunsches vornehmen. Die ethische Verpflichtung zum Erhalt der Gesundheit und zur Linderung von Leiden bedingt eine patienten- und diagnosebezogene adäquate Therapie im Sinne der Suizidprävention“, sagte Mischo, der zugleich auch Präsident der Ärztekammer des Saarlandes ist.
Voraussetzung dafür sei, so Mischo, dass sich Ärztinnen und Ärzte zu diesen Aspekten umfänglich fortbilden könnten. Fortbildungsbedarf sieht er zum Beispiel in der ärztlichen Gesprächsführung, zu Hintergründen von Suizidalität, diagnostischen Möglichkeiten und Kooperationen mit Fachexperten sowie zu Möglichkeiten der Suizidprävention.