119. Deutscher Ärztetag: Ausstellung "erfasst, verfolgt, vernichtet"

Anerkennung und Genugtuung

Die Ausstellung "erfasst, verfolgt, vernichtet" zeigt im Ausstellungsprogramm dieses Ärztetages in Hamburg, dass deutsche Ärzte im Dritten Reich schuldhaft mit dazu beigetragen haben, Patienten zu Opfern nationalsozialistischer Verfolgung werden zulassen.

Die deutsche Ärzteschaft appelliert an den Bundesgesetzgeber, fast 60 Jahre nach der Verabschiedung des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) von 1956 darauf hinzuwirken, dass die Menschen, die im nationalsozialistischen Deutschland nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) von 1934 körperlich und seelisch geschädigt oder ermordet wurden, endlich auch vor dem Gesetz explizit und in vollem Umfang als Opfer des NS-Regimes anerkannt werden und Genugtuung erfahren. Die deutsche Ärzteschaft will dazu beitragen, dass diese Patienten anerkannt werden und Genugtuung erfahren.

Begründung

Das GzVeN vom 14.07.1933 (RGBl. I, S. 529) trat zum 01.01.1934 in Kraft. Es diente der sogenannten Rassenhygiene durch "Unfruchtbarmachung" vermeintlich "Erbkranker" und Alkoholiker. Zur Begutachtung eines Sterilisationsverfahrens wurden formal rechtsförmig agierende "Erbgesundheitsgerichte" geschaffen.

Als Erbkrankheiten im Sinne des GzVeN galten: angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres (manisch-depressives) Irresein (Bipolare Störung), erbliche Fallsucht (Epilepsie), erblicher Veitstanz (Chorea Huntington), erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, schwere erbliche körperliche Missbildung. Ferner konnte unfruchtbar gemacht werden, wer an "schwerem Alkoholismus" litt.

Exemplarisch zeigt die auch im Rahmen dieses 119. Deutschen Ärztetages gezeigte Ausstellung "erfasst, verfolgt, vernichtet" der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in Verbindung mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Stiftung Topographie des Terrors den resultierenden Umgang mit Kranken und behinderten Menschen in Folge dieses Gesetzes.

Frank Schneider, Präsident der DGPPN, wies in seiner Rede zur Aufarbeitung der Verbrechen an psychisch Kranken und geistig Behinderten im Nationalsozialismus darauf hin, dass das Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG) von 1956 in seiner Erweiterung zum BEG-Schlussgesetz von 1965 weiter Bestand hat und die  zwangssterilisierten und ermordeten psychisch kranken Menschen bis heute nicht explizit als Opfer des NS-Regimes und als  Verfolgte aus rassischen Gründen anerkannt sind. Es ist an der Zeit, dieses Unrecht aufzuheben und das fortdauernde Leid und das Schicksal dieser Opfer auch von Seiten des deutschen Staates angemessen zu würdigen.

Redeauszug Frank Schneider

"(...) Und die Politik? 1956 wurde rückwirkend das Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung verabschiedet. 1965 wurde es zum BEG-Schlussgesetz erweitert. So konnten bis 1969 alle Opfer, die aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen verfolgt worden waren, einen Anspruch auf Entschädigung anmelden - nicht aber die Zwangssterilisierten oder die Familien von Euthanasieopfern, weil sie nicht aus rassischen Gründen verfolgt worden seien. Auch dies eine nachträgliche Demütigung der Opfer, zu der wir geschwiegen haben. Gutachter in den Anhörungen des Bundestagsausschusses für Wiedergutmachung in den 1960er-Jahren waren zum Teil dieselben Psychiater, die im Nationalsozialismus Zwangssterilisierungen gerechtfertigt hatten und an den Tötungsaktionen beteiligt waren.

Am 13. April 1961 lehnte Werner Villinger laut Protokoll Entschädigungszahlungen mit der zynischen Begründung ab, es sei die Frage, ob bei der Durchführung einer Entschädigung der Zwangssterilisierten 'nicht neurotische Beschwerden und Leiden auftreten, die nicht nur das bisherige Wohlbefinden und (...) die Glücksfähigkeit dieser Menschen, sondern auch ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigen.'

Erst 1974 wurde das Erbgesundheitsgesetz außer Kraft gesetzt. Es bestand aber formal weiter. 1988 stellte der Deutsche  Bundestag fest, dass die auf der Grundlage des Erbgesundheitsgesetzes vorgenommenen Zwangssterilisierungen nationalsozialistisches Unrecht waren. Zehn Jahre später beschloss der Bundestag, die Entscheidungen der Erbgesundheitsgerichte per Gesetz aufzuheben. Aber erst 2007 wurde schließlich das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom Deutschen Bundestag geächtet. Es stünde im Widerspruch zum Grundgesetz und sei daher faktisch bereits bei dessen Inkrafttreten außer Kraft getreten. Die DGPPN hatte diesen Antrag zur Ächtung des Gesetzes seinerzeit unterstützt.

Weiterhin Bestand aber hat das BEG von 1965. Bis heute sind die zwangssterilisierten und ermordeten psychisch kranken  Menschen daher nicht explizit als Opfer des NS-Regimes und als Verfolgte aus rassischen Gründen anerkannt. Hier sollte die  Politik aktiv werden, bevor es zu spät ist. Erst mit der Aufhebung auch dieses Unrechts würde das fortdauernde Leid der Opfer  und ihr Schicksal auch von Seiten des deutschen Staates angemessen gewürdigt. (...)"