Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern und Jugendlichen
Früherkennung und Prävention als ärztliche Aufgabe
Aufgrund der vielfältigen Erscheinungsformen und hohen Prävalenz haben Ärztinnen und Ärzte in fast allen Bereichen mit gefährdeten Kindern und Jugendlichen zu tun.
Folgen aller Formen von Misshandlung und Vernachlässigung und sexualisierter Gewalt bzw. ihre Differentialdiagnosen zeigen sich in pädiatrischen, kinder- und jugendpsychiatrischen, kinderchirurgischen, gynäkologischen, HNO-ärztlichen, augenärztlichen und dermatologischen Untersuchungsbefunden, in radiologischen und mikrobiologischen Befunden.
Patientinnen und Patienten als Eltern potentiell gefährdeter Kinder begegnen uns in der Allgemeinmedizin, Inneren Medizin, Psychiatrie, Chirurgie und anderen Fächern. Es bestehen Überschneidungen zur häuslichen Gewalt zwischen Erwachsenen und Gewalt in der (häuslichen) Pflege betagter Menschen.
Zu den Aufgaben von Ärztinnen und Ärzten gehört die Behandlung der kurz- und langfristigen körperlichen und psychischen Folgen sowie dazu beizutragen, das Misshandlungen häufig innewohnende Rezidivrisiko zu mindern.
Das Rezidivresiko besteht, da Misshandlungen auf der Grundlage einer Kombination aus Risikofaktoren entstehen, die zumeist ohne wirksame äußere Intervention bestehen bleiben.
Ein mitunter postulierter „heilsamer Schreck“, der misshandelnde Eltern nach einem Arztkontakt mit einem verletzten Kind von weiteren Misshandlungen abhalten würde, widerspricht der wissenschaftlichen Evidenz. Diese belegt stattdessen ein hohes Risiko rezidivierender und eskalierender Verläufe (Hindley N, Ramchandani PG, Jones DPH (2006). “Risk factors for recurrence of maltreatment: a systematic review.” Arch Dis Child 91(9)).
Definitionen
"Kindesmisshandlung" ist der Oberbegriff über Handlungen und Unterlassungen, die Kinder oder Jugendliche dem Risiko eines körperlichen oder psychischen Schadens aussetzen. Der Schaden muss dabei von den verantwortlichen Personen nicht beabsichtigt sein.
Meist werden fünf Formen unterschieden:
Für Belange der Forschung, des Straf- und Familienrechts sowie der Kinder- und Jugendhilfe werden im Detail oft eigene Begriffe oder abweichende Definitionen verwendet.
Bundeskinderschutzgesetz
Mit dem Bundeskindeschutzgesetz hat der Gesetzgeber 2012 im § 4 KKG eine Befugnisnorm geschaffen, welche die Weitergabe von Informationen an das Jugendamt bei sog. Gewichtigen Anhaltspunkten für eine Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen ohne Bruch der Schweigepflicht erlaubt.
Die Mitteilenden müssen hierbei die vermutete Kindeswohlgefährdung nicht beweisen. Dabei soll zunächst versucht werden, die mögliche Kindeswohlgefährdung über im Gespräch mit den betroffenen Familien und dem Verweis an zusätzliche Unterstützungsangebote abzuwenden.
Scheitert dies oder erscheint nicht erfolgversprechend, ist die Information des Jugendamtes vorgesehen. Seit der Ergänzung durch das 2021 in Kraft getretene Kinder- und Jugendstärkungsgesetz soll nun bei dringender Gefahr die unverzügliche Information des Jugendamtes erfolgen, wenn dies erforderlich erscheint.
Leitlinien, Weiterbildung und Beratung
In den letzten Jahren haben zahlreiche Entwicklungen im medizinischen Bereich zu einer Verbesserung der Handlungsfähigkeit der Fachkräfte in Fällen einer vermuteten Kindeswohlgefährdung geführt. Dazu gehört die AMWF-Leitlinie Kindesmisshandlung, -missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinie).
Umfassende Weiterbildungsprogramme zu Fragen des medizinischen Kinderschutzes, z.B. von der wissenschaftlichen Fachgesellschaft (Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin) und der Uniklinik Ulm verbessern das verfügbare Wissen im medizinischen Kinderschutz.
Die vom Bundesfamilienministerium finanzierte Medizinische Kinderschutzhotline stellt allen Fachkräften im Gesundheitswesen bundesweit rund um die Uhr kostenlos eine ärztliche Beratung durch spezialisierte Ärztinnen und Ärzte zu Fragen des Medizinischen Kinderschutzes unter 0800 1921000 zur Verfügung.