Medizinisch nicht notwendig
Deutsches Ärzteblatt 99, 39 (27.09.2002), Seite A-2571
Was der Arzt im Einzelfall als medizinisch notwendig erachtet und berechnet, ist aus Sicht der privaten Krankenversicherung nicht zwangsläufig in den Umfang der Leistungspflicht für "medizinisch notwendige Heilbehandlungen" (§ 1 Abs. 2 MBKK 94) eingeschlossen.
Klassisches Feld der Auseinandersetzungen über die "medizinische Notwendigkeit" war bis dato die Grenzziehung zwischen wissenschaftlich anerkannten Verfahren und Außerseitermethoden. Laut § 4 Abs. 6 der Musterbedingungen von 1994 für die privaten Krankheitskosten- und Krankenhaustagegeldversicherung (MBKK 94) sind neben den "Untersuchungs- und Behandlungsmethoden und Arzneimitteln, die von der Schulmedizin überwiegend anerkannt sind" nur solche Methoden und Arzneimittel eingeschlossen, die "sich in der Praxis als ebenso erfolgversprechend bewährt haben". Aus Sicht des Bundesverbands der Verbraucherzentralen verstößt dieser Passus in gleicher Weise gegen die Rechte des privatversicherten Patienten wie die aufgrund eines Urteils vom Bundesgerichtshof (BGH-Urteil vom 10.7.1996) wegen Verstoßes gegen die Allgemeinen Geschäftsbedingungen abgelöste frühere so genannte "Wissenschaftlichkeitsklausel", wonach von Ärzten erbrachte "wissenschaftlich nicht allgemein anerkannte Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden" generell von der Leistungspflicht ausgeschlossen wurden. Die Verbraucherzentralen haben deshalb Klage beim Bundesgerichtshof eingereicht.
Eine Novität ist, dass einzelne private Krankenversicherungsunternehmen dazu übergehen, die Indikation und damit den Vergütungsanspruch auch von schulmedizinischen Leistungen, die im Gebührenverzeichnis der GOÄ enthalten sind, infrage zu stellen beziehungsweise die Kostenerstattung zu verweigern. Dies wäre nachvollziehbar, wenn sich die Kritik auf jene meistens wohl bekannte "Abrechnungskünstler" richtete, die durch eine systematische Abrechnung von routinemäßiger Maximaldiagnostik und -therapie auffallen und deshalb auch den Ärztekammern ein Dorn im Auge sind. Stattdessen wird ohne Ansehen des Einzelfalls zum Beispiel die Kostenübernahme für ein zweites Langzeit-EKG, obwohl zum Beispiel zur Sicherung der Diagnose oder zur Therapiekontrolle indiziert, einfach gestrichen. Kann ein Prüfarzt dies nachträglich ohne Kenntnis der Gesamtumstände des Behandlungsfalls beurteilen? Hat der Sachbearbeiter der Krankenversicherung hier überhaupt einen Prüfarzt zu Rate gezogen?
Vor Gericht dürften solche Vorstöße gegen die Therapiefreiheit keinen Bestand haben, wie auch die Rechtsprechung in ähnlich gelagerten Fällen in der Gesetzlichen Krankenversicherung zeigt, zum Beispiel bei Auseinandersetzungen um die Notwendigkeit einer Krankenhausbehandlung (vgl. zum Beispiel Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 28. März 2001, Az.: L 9 KR 203/00). Entscheidend für den Vergütungsanspruch ist, ob entsprechend dem aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand aus Sicht des behandelnden Arztes "im Zeitpunkt der Vornahme der ärztlichen Behandlung" die medizinische Notwendigkeit zu einer bestimmten Maßnahme bestand (Urteil des Bundesgerichtshofs vom 10. Juli 1996, Az.: IV ZR 133/95).
Dr. med. Regina Klakow-Franck
(in: Deutsches Ärzteblatt 99, 39 (27.09.2002), Seite A-2571)