Auslegung des "Gelenks": Medizinischer Sachverstand unverzichtbar
Deutsches Ärzteblatt 100, Heft 9 (28.02.2003), Seite A-575
Liquidationsprobleme im Zusammenhang mit medizinischen Leistungen am "Gelenk" treten nicht nur bei Operationen, sondern zum Beispiel auch in der Magnetresonanztomographie auf. Das Fußgelenk gliedert sich in ein unteres und oberes Sprunggelenk. Aber der Versuch, diese jeweils in "große Gelenke" umzudeuten, offenbart sich schnell als unlauterer Abrechnungstrick, statt der Nr. 5729 GOÄ (2 400 Punkte) die höher bewertete Nr. 5730 GOÄ (4 000 Punkte) abrechnen zu wollen.
Schwieriger zu entscheiden sind Auslegungsdifferenzen in der Gelenkchirurgie, trotz - oder gerade wegen - der Einführung der Gebührenordnungsnummern für arthroskopische Operationen in das Leistungsverzeichnis der GOÄ 1996, verbunden mit der gleichzeitigen Aufnahme weitreichender Ausschlussbestimmungen (siehe Allgemeine Bestimmungen zu Abschnitt L III. GOÄ). Danach darf eine Reihe von endoskopischen oder offenen Eingriffen an demselben Gelenk nicht mehr nebeneinander abgerechnet werden. Es fragt sich allerdings: Was heißt "dasselbe Gelenk"? Darf eine Arthroplastik am Acromioclaviculargelenk nicht neben einem Eingriff am Glenohumoralgelenk abgerechnet werden, weil beide Gelenke zur funktionellen Einheit des Schultergelenks gehören, selbst wenn Nr. 2137 (Arthroplastik eines Schultergelenks) nicht von der Ausschlussbestimmung betroffen ist?
In der Rechtsprechung ist in erster Linie der Wortlaut der Leistungslegenden maßgeblich. Ein im Zusammenhang mit der Auslegung "desselben Gelenks" häufig zitiertes Urteil - obwohl es die vertragsärztliche Gebührenordnung BMÄ/E-GO betrifft - ist das Urteil des Bundessozialgerichts vom 25. August 1999 zur Schultergelenk-Arthroskopie (Az.: B 6 KA 32/98 R). Danach ist im "allein maßgeblichen gebührenordnungsrechtlichen Sinne" ein Gelenk unteilbar. Die Schlussfolgerung des Bundessozialgerichts basiert aber nicht auf einfacher Wortauslegung, sondern unter anderem auf der Beleuchtung der Systematik, nach der die vertragsärztlichen gelenkchirurgischen Eingriffe geordnet sind, sowie auf dem Grundsatz, dass es nicht in erster Linie Aufgabe der Gerichte, sondern "Aufgabe der Bewertungsausschüsse sei, unklare Regelungen in der Gebührenordnung zu präzisieren".
Im Privatliquidationssektor fehlt ein durch den Gesetzgeber eingerichteter Bewertungsausschuss, die Weiterentwicklung der GOÄ ist bislang ganz auf die (Un-)Tätigkeit des Verordnungsgebers angewiesen. Die GOÄ ist ein historisch gewachsenes Sammelsurium, ohne einheitliche Terminologie und mit zahlreichen logischen Brüchen. Unfreiwillig - aber unvermeidlich - werden die Gerichte immer häufiger die Widersprüche zwischen veraltetem Gebührenverzeichnis und medizinischem Leistungsgeschehen schlichten müssen. Eine über die einfache Wortauslegung hinausgehende Berücksichtigung medizinischer, historischer und bewertungsbezogener Aspekte wird dabei unerlässlich sein (siehe Urteil Amtsgericht Hannover vom 12. November 2002, Az.: 561C 5101/01).
Dr. med. Regina Klakow-Franck
(in: Deutsches Ärzteblatt 100, Heft 9 (28.02.2003), Seite A-575)